Gôg - Was Tübingen ausmacht

GÔG APRIL 2022 18 GÔG – WAS TÜBINGEN AUSMACHT n Michele Facchinos Werkstatt scheint die Zeit still zu stehen. Stehen geblieben in einem schwebenden Moment, in dem alles passte und den die Realität kaum zu berühren scheint. Eine Werkstatt mit hohen Decken und großen Fenstern hinaus auf die kopfsteingepflasterten Gassen. Unzählige Werkzeuge, die meisten davon selbst gefertigt, sind fein säuberlich aufgereiht, Büschel von Pferdeschweifhaaren wedeln in der Zugluft, wenn die Ladentür sich öffnet. Es riecht nach Leim, Lack und Holz. Alte Möbel, von denen man nicht weiß, ob sie hier schon immer standen, mischen sich mit kleineren und größeren Maschinen, Holzstücke wirken wie zufällig irgendwo hin geräumt. Schmuckstück ist die alte, quietschgrüne Drehbank. Und die Dartscheibe, in deren Nähe sich zahlreiche Utensilien finden, die darauf schließen lassen, dass Michele Facchinos Bogenbau-Werkstatt das ist, was Werkstätten besonders in südlichen Gefilden bis heute gerne sind: ein Treffpunkt für Nachbarn, Freunde, Passanten, Kunden. I Michele Facchino baut hier Bögen für Streichinstrumente, für Celli, Geigen, Bratschen, Kontrabässe und Gamben. Er erneuert auch die Bespannung und repariert schadhafte Bögen. Seine Kunden sind Musikerinnen und Musiker aus namhaften Orchestern, auch Solokünstler und ambitionierte Hobbymusiker. Und Kinder, die ein Instrument lernen. Mit einem guten Bogen macht das gleich viel mehr Spaß. Alle kommen gern zu ihm in die Bachgasse, Facchino versteht sein Handwerk. Jedes Einzelteil fertigt er in Handarbeit, entscheidet mit Wissen und Bauchgefühl, welche Teile miteinander harmonieren, um am Ende aus den Streichinstrumenten zartschmelzende, leise vibrierende oder erschütternd starke Töne hervorzulocken. Knappe zwei Wochen benötigt er, um die ganzen Einzelteile und daraus schließlich einen Bogen zu fertigen. Aktuell liegen einige davon fein säuberlich nebeneinander in einer Schublade. Das ist nicht immer so, Corona ist schuld. Das Virus hatte ihm mehr Zeit verTreffpunkt Bachgasse ❚MICHELE FACCHINOEr lernte Elektriker, studierte Nachrichtentechnik und Holzblasinstrumentenbau. Heute ist Michele Facchino ein überregional gefragter Bogenbauer und seine Werkstatt kommunikatives Zentrum der Bachgasse. // Text: Ghita Kramer-Höfer // Bilder: Erich Sommer

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