Gôg - Was Tübingen ausmacht

GÔG APRIL 2022 8 GÔG – WAS TÜBINGEN AUSMACHT // Ein Gôg und ein Professor der Philosophie kommen ins Gespräch. „Womit beschäftigen Sie sich eigentlich den ganzen Tag?“ will der Gôg wissen. „Oh!, „erwidert der Professor. „Ich beschäftige mich mit den drei großen Fragen der Menschheit: Woher komme ich? Wer bin ich! Wohin gehe ich?“ Der Gôg lacht. „Das haben wir gleich: Ich komme aus der Madergass‘, ich bin Weingärtner und jetzt gehe ich ins Mayerhöfle, ein Viertele trinken.“ // Was genau ist eigentlich ein Witz? Und warum lachen wir über Witze? Immanuel Kant, der große Philosoph der Aufklärung, der nicht in dem Ruf steht, ein besonders witziger Menschen gewesen zu sein, weiß es genau: „Das Lachen ist ein Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“, schreibt er in der „Kritik der Urteilskraft“. Wir hören eine Geschichte, Spannung wird aufgebaut – und dann fällt das ganze Drama in sich zusammen wie ein zu früh aus dem Ofen geholtes Soufflé: // Zwei Gôgen stehen auf der Neckarbrücke. Plötzlich fällt ein französischer Student von der Zwingelmauer in den Fluss. Verzweifelt versucht er ans Ufer zu gelangen, schlägt wild mit den Armen um sich und ruft: “Au secours! Au secours!“ Die beden Gôgen sehen dem jungen Mann hinterher, der von der Strömung fortgetrieben wird. „Do siehsch amol“, sagt der eine zum anderen. „Der hätt‘ besser schwimmen lernen sollen als wie bloß Französisch.“ // Ganz schön krass. Hätten die beiden wackeren Weingärtner nicht alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um den jungen Mann zu retten? Witze sind keine Fabeln. Sie sind weder moralisch noch sozialkritisch. Sie spielen mit kultureller Differenz und Distanz, mit Stereotypen und Klischees. Hier der vergeistigte französische Student, dort die derben, aber schlagfertigen Gôgen. Witzig ist nicht deren Herzlosigkeit, sondern die unerwartete Wendung der Erzählung. Erste Witzesammlungen 1912 erscheinen in Stuttgart unter dem Titel „Schbazaweisheit“ sechs Anekdoten in Versform, in denen zum ersten Mal Witze mit und über die Tübinger Gôgen vorkamen. Vier Jahre später erschien anonym als Feldpostausgabe eine ganze Witzesammlung unter dem Titel „G-W“. Von diesem Bändchen, in dem sämtliche schwäbischen Kraftausdrücke mit den jeweils ersten Buchstaben abgekürzt wurden, gab der „Schwabenprofessor“ HeinzEugen Schramm nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Neuauflagen heraus. Schramm war promovierter Philologe und unter anderem der Herausgeber des „Schwäbischen Heimatkalenders.“ Auch die Herausgeber der ersten Sammlung Gôgenwitze wurden irgendwann enttarnt: Es handelte sich um den in Saulgau geborenen Oberstaatsanwalt Hermann Cuhorst und die beiden Cousins Karl und Viktor Kommerell. Beide hatten Mathematik studiert, der eine, der aus Aachen stammte, war in Tübingen Professor, der andere Rektor der Tübinger Realschule. Zu den gedruckten Gôgenwitzen gesellten sich ab Ende der 1960er-Jahre noch von Walter Schultheiss, Sigi Harreis und anderen besprochene Schallplatten, Kassetten und CDs. Als die ersten Witzesammlungen erschienen, waren die Gôgenwitze ein ziemlich junges Phänomen. Die meisten datierbaren Witze stammen aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Die Schriftstellerin Isolde Kurz, die zwischen 1864 und 1873 in Tübingen lebte, berichtet in ihren Jugenderinnerungen: „Unzählige Gögenworte und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang.“ Zeit des Umbruchs In dieser Zeit verändert sich Tübingen rasant: Die Einwohnerzahl wächst, es kommen immer mehr Studenten in die Stadt. Die Universität wird imLacher mit G’schmäckle ❚GÔGENWITZE Sie sind selbst international ein Begriff: die Tübinger Gôgenwitze. Wann kamen sie auf? Wer hat sie erzählt und gesammelt? Welche Bedeutung haben sie heute? Andrea Bachmann hat sich auf Spurensuche gemacht. »Gôgenwitze sind sozusagen letzte Worte – sie kommen in dem Moment auf, in dem ihre Protagonisten verschwinden.

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