Gôg - Was Tübingen ausmacht

APRIL 2022 GÔG GÔG – WAS TÜBINGEN AUSMACHT 9 mer wichtiger, der Weinbau, jahrhundertelang der bedeutendste Wirtschaftsfaktor der Stadt, verschwindet. Die traditionelle Handwerker- und Weingärtnerkultur wird aufgegeben, die Bewohner der Unterstadt arbeiten als Lohnarbeiter an der Universität, in den wenigen Industriebetrieben, bei der Post oder bei der Bahn. Die meisten Gôgenwitze thematisieren diese Umbruchzeit. Sie machen sich über den Fortschrittsglauben lustig, über akademisches Getue, über den Kontrast zwischen Ober- und Unterstadt. Und sie stellen die Tübinger Unterstadtbewohner als raue, aber tüchtige, bodenständige und clevere Zeitgenossen dar. // Ein Fremder steht vor dem Tübinger Rathaus und bewundert den schönen Bau. „Wie viele Beamte arbeiten denn da drinnen?“, möchte er wissen. Antwortet ihm ein Gôg: “ Vielleicht d’Hälfte.“ // Angeblich haben die Gôgenwitze antike Vorbilder: Die römischen Autoren Horaz und Plinius berichten von Späßen zwischen Weinbauern und Passanten. Letztere hätten die Arbeiter im Weinberg mit „Kuckuck“-Rufen gehänselt. Es gibt ein paar halbseidene Theorien, nach denen das Wort „Gôg“ von diesen antiken Kuckucksrufen hergeleitet wird. Aber letztendlich sind Witze, die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zum Thema haben, nichts Ungewöhnliches. Ostfriesen, Schotten und Blondinen wissen davon ein Lied zu singen. Gôgenwitze sind sozusagen letzte Worte – sie kommen in dem Moment auf, in dem ihre Protagonisten verschwinden. Von Akademikern gesammelt Es waren keine Gôgen, die diese Witze sammelten, unter die Leute brachten und so vor dem Vergessen bewahrten, sondern allesamt Akademiker, die nicht einmal alle aus Tübingen stammten. Die hatten in den Jahrhunderten zuvor mit weit weniger Sympathie auf die Bewohner der Unteren Stadt herabgeblickt. Der Schriftsteller Friedrich Nicolai oder Johann Wolfgang von Goethe beschreiben Ende des 18. Jahrhunderts ein so schmutziges, elendes, baufälliges und beengtes Tübingen, dass man sich fragt, wie es hier überhaupt jemand aushalten konnte. Nur Menschen, die von keiner Kultur und Bildung wissen können hier daheim sein. Ein Brief, den der 18-jährige Buchhändlerlehrling und Pfarrersohn Hermann Hesse an seine Eltern schreibt, zeigt, wie sehr der junge Mann, dem nach einer schlimmen Pubertätskrise der Weg an die Universität versperrt war, sich „nach unten“ abgrenzt. Die Raupen oder Gôgen seien ein „horribles Geschlecht, schmutzig und vierschrötig, und gegenwärtig voll neuen Weins. Ihr Schwäbisch ist echt und faustdick und gemahnt ans Slowakische.“ Symbol einer untergehenden Kultur Aber um die Jahrhundertwende ändert sich das Bild des grobschlächtigen Unterstadtbewohners. Der Weingärtner wird zu einem Stück Volkskultur. Anstatt ihm mit Herablassung und Verachtung zu begegnen, wird er zum Symbol einer untergehenden Kultur, der man mit Wehmut hinterher schaut. Christian Frank richtet in seiner Zeitschrift „Deutsche Gaue“ eine spezielle Rubrik für geflügelte Worte und Witze ein, beklagt das Aussterben der Gôgen und lobt deren „Mutterwitz“. Das Sammeln von Gôgenwitzen wird zu einem Teil der Heimat- und Brauchtumspflege, wie sie sich der Schwäbische Heimatbund und der Albverein auf die Fahnen geschrieben haben, die beide in dieser Zeit gegründet werden. Auch die 1898 zum ersten Mal erschienenen „Tübinger Blätter“ bedienen das neue Interesse für die Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung. Postkartenmotiv In der Malerei entdeckt man den Gôgen als salonfähiges Bildmotiv. Einer von ihnen bringt es sogar zu einer gewissen Berühmtheit: Robert Brodbeck, der wegen seiner äußeren Erscheinung und seiner Sympathie für die bärtigen Freiheitskämpfer des südafrikanischen Burenkrieges der „Burengeneral“ genannt wurde, stand dem Fotografen Metz Modell und brachte es so zu Postkartenmotiv. Seine Silhouette ziert noch heute die Wetterfahnen der Schmiedtorkelter und des Bürgerheims und ist in einer Fensterscheibe der Gaststätte „Lichtenstein“ zu sehen, in der er angeblich gerne verkehrte. Nach dem Ersten Weltkrieg, am Ende des Kaiserreichs, wird der Tübinger Gôg als selbstbewusster Demokrat angesehehen, der sich von niemandem, schon gar nicht von der Obrigkeit, etwas sagen lässt. Man erzählt zwar Witze über die Gôgen, aber man macht sich eigentlich nicht über sie lustig. Man bewundert sie vielmehr oder macht sie zum Sehnsuchtsobjekt vergangener, besserer Zeiten. Gôgenwitze sind keine „Unbildungswitze“, sondern wollen jetzt zeigen, dass die Bewohner der Tübinger Unterstadt nicht nur derb, sondern vor allem klug und schlagfertig sind. Noch immer ist es die kulturelle Differenz, die Distanz zum Anderen, zum Fremden, die die Witze so populär machen. Aber in jedem dieser Witze steckt ein wahrer Kern. Auch in diesem, dem Lieblingsgôgenwitz der Autorin: // Der Pfarrer kommt an einen Gartenzaun im Hasengässle, sieht der Besitzerin beim Unkraut jäten zu und bewundert die bunte Blumenpracht: „Wie schön es hier blüht, mein Kind! Da hat der liebe Gott wirklich etwas ganz Wunderbares geschaffen!“ Die Frau antwortet mit frommem Gesicht und charmantem Lächeln: „Ach, Herr Pfarrer! Sie hätten mal sehen sollen, wie das ausgeschaut hat, als der liebe Gott hier noch ganz allein geschafft hat!“// Zwei Gôgen bei einer „freundlichen“ Unterhaltung – KarlHenning Seemanns Figurengruppe „Auseinandersetzung“ könnte die Tübinger Originale zumVorbild gehabt haben. Aktuell stehen die beiden, die sonst imLammhof zu sehen sind, leider imDepot. //Bilder: Erich Sommer

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