Gôg - Was Tübingen ausmacht

APRIL 2022 GÔG GÔG – WAS TÜBINGEN AUSMACHT 19 schafft, seinem Handwerk nachzugehen, als ihm lieb war. „Das war ganz schön hart“, sagt er. „Die Musiker hatten keine Arbeit mehr, niemand wusste, wie das weitergehen würde. In dieser Situation kauft man keinen neuen Bogen und man lässt auch keinen bespannen.“ Seine Werkstatt ist genau so eingerichtet, wie es für ihn sein muss. „Ich geh jeden Tag gern ins Geschäft“, sagt er. Hier sieht man ihn mitunter auch noch mitten in der Nacht bei warmem Lichtschein über einen Frosch oder eine Bogenspitze gebeugt mit der Feile sitzen. Hier ist er glücklich und hier hat er auch vor, zu bleiben. Es hätte auch ganz anders kommen können. Elektriker hat er gelernt. Nicht direkt aus Überzeugung. „Meine Eltern sind zurück nach Italien, ich wollte aber in Deutschland bleiben.“ So wohnte er bei einem Onkel auf den Fildern und machte dort die Ausbildung, holte die Fachhochschulreife nach und studierte Nachrichtentechnik. Dann wurde das BAföG gestrichen und für Michele Facchino war damit das Studium beendet. Ein paar Jahre lang half er einem Freund in dessen SolarUnternehmen, dann war klar: „Ich wollte etwas Langfristiges. Einen eigenen Laden.“ Die Freundin spielte Querflöte, er selbst übrigens auch. Doch es gab niemanden, der die Instrumente reparieren konnte. „Ich hab in ganz Deutschland und sogar in Frankreich nach einem Ausbildungsplatz gesucht und keinen gefunden“, erzählt er. In England endlich wurde er fündig – und angenommen. Drei Jahre lang lernte er auf einem College, Holzinstrumente zu bauen. Da die Kumpel in seiner WG mit ihrem Geigenbaustudium noch nicht fertig waren, hängte Michele Facchino kurzerhand noch ein Jahr dran und studierte ebenfalls Geigenbau, bis alle ihren Abschluss in der Tasche hatten. Gemeinsam zogen die vier Jungs nach Köln. Dort fertigte Michele Facchino für einen Bogenbauer die Werkzeuge. „Willst du für mich arbeiten?“, fragte der. Die Antwort „I hab koi Ahnung vom Bogenbau“ ließ der zukünftige Lehrmeister nicht gelten. „Das lernst du schon“, sagte er und behielt recht. Vier Jahre lang lernte Michele Facchino das Handwerk von der Pike auf. Lernte, welche Hölzer verwendet werden und welche Techniken und stellte fest: „Das ist mein Ding.“ Der Umzug nach Tübingen war der Freundin geschuldet, seine Ausbildung zum Elektriker verschaffte ihm rasch ein Einkommen. Als Michele Facchino in der Bachgasse allerdings einen schmalen Schlauch von Werkstatt anmieten konnte, hatte er gefunden, was er sich erträumt hatte: seine eigene Werkstatt. Anfangs baute er noch Holzblasinstrumente, auch für namhafte Firmen. Dann entschied er sich endgültig für den Bogenbau. Bereut hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass sein Weg so viele Kurven hatte. „Nichts war vergeblich“, ist er überzeugt. Zwischenzeitlich wohnt er sogar direkt um die Ecke seiner Werkstatt, ist in Tübingen vernetzt, als wäre er hier aufgewachsen. Immer wieder steckt ein Kumpel den Kopf in die Werkstatt, bringt süße Stückle vorbei oder setzt sich für einen Plausch und einen Café. „Das ist klasse. Die Verbindung von Arbeit und Sozialem, das ist es, was für mich das Leben schön und wertvoll macht.“ Was gefällt ihm an Tübingen, der Stadt, in die ihn der Zufall gespült hat? „Im Gegensatz zu allen anderen deutschen Städten, in denen ich war, sind hier auch nachts noch Menschen unterwegs. Das Leben findet draußen statt. Das ist in Italien normal. Hier ist es etwas Besonderes.“ Vor einigen Jahren, als die benachbarte Schreinerei ausgezogen war, gesellte sich Geigenbauerin Almut Schubert mit ihrer Werkstatt hinzu – eine wunderbare Fügung. Bis heute arbeiten die beiden eng zusammen. Und an lauen Sommerabenden bilden sie den Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft, die vor der Tür zusammensitzt, schwätzt, trinkt und isst und sich über jeden freut, der sich dazu gesellt. »Ich geh jeden Tag gern ins Geschäft. Michele Facchino Bogenbauer In Michele Facchinos Bogenbau-Werkstatt finden sich zwischen allerlei zumeist selbst gefertigten Werkzeugen und größeren Maschinen auch immer wieder Zeugnisse davon, dass hier gelebt und gearbeitet wird. Feinsäuberlich in die vielen kleinen Schubladen sortiert, findet sich rasch, was gerade gebraucht wird. Die quietschgrüne Drehbank ist knalliger Hingucker. Hier entsteht jedes kleinste Teil in Handarbeit.

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